Blutbuch by de l'Horizon Kim
Autor:de l'Horizon, Kim [de l'Horizon, Kim]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783832182601
Herausgeber: Dumont
wir haben alles andere kennengelernt, nur uns selbst nicht. und wenn wir die weisheit der hexen wieder erlernen wollen, dann dürfen wir tatsächlich uns selbst erforschen. in uns ist alles wissen. es ist wirklich in uns. wir haben 3 millionen jahre altes wissen in unserem körper. ja, 3 millionen!
Doris Stauffer
1
Meer hat gesagt: »Vielleicht wäre es schön, wenn Grossmeer in Ostermundigen, wenn sie so nah vom Haus, wo sie aufgewachsen, wenn sie hier alt würde, im tilia-Heim«, und ich habe gesagt: »Sie ist schon alt, sie wird nichts mehr, und sie kennt noch knapp deinen Namen, Ostermundigen ist ihr nichts mehr, es ist scheissegal, wo sie gepflegt wird«, und Meer hat gesagt: »Das weiÃt du jetzt so«, und wir haben dich angeschaut, wie du in die neue Leere vor deinem Bett gestarrt hast, und Meer hat nichts mehr gesagt. Ich weiss nicht, ob du gemerkt hast, dass wir dich beobachteten. Du hast dich aufgerichtet, bis du königinnenlich aufrecht sassest. »Wo sind meine Geranien?«, hast du gefragt. Meer hat gesagt, leise: »Sie war schon immer eine Befehlerin.«
Das stimmt nicht. Meer hat diesen Satz anders gesagt. Auf Schweizerdeutsch gibt es neben dem Plusquamperfekt nur eine Vergangenheitsform, das Perfekt. Meer sagte: »Si isch scho immer ä Befähli gsi â Sie ist schon immer eine Befehlerin gewesen.« Wie sehr dem Schweizerdeutschen das Präteritum fehlt; diese Form, die schriftlicher, formeller, offizieller ist â und die Vergangenes beschreibt, das abgeschlossen ist. Bei uns steht jede Vergangenheit im Perfekt, ragt in die Gegenwart und ist noch nicht wirklich fertig mit uns. Wir können im Sprechen über die Vergangenheit nicht über sie verfügen.
Und diese Gegenwart hier steht im Konjunktiv, Meer spricht nur in der Möglichkeitsform: »Grossmeer könnte hier, sie wäre hier glücklich, wir müssten dies und das«. Meer will über diese Gegenwart nur als eine Möglichkeit von vielen sprechen. Ich nicht, ich möchte in ein simples Präsens kommen, ich möchte nach meinem Blutbuchensommer, der den Herbst geschluckt hat, jetzt in diesem November ankommen. Ich möchte nach dem vielen Ausweichen einfach mal bei dir sein, Grossmeer.
Rechts vor dem Eingang des Heimes wächst eine Blutpflaume. Neben der Blutpflaume steht grau auf weiss »tilia â Stiftung für Langzeitpflege« und lila auf weiss »herzlich willkommen«. Du kannst Brownies, Blackies, Whities und Nutties kaufen für sechzig Rappen. Du kannst gestalten, gemeinsam kochen, thematische Gesprächsrunden führen, dein Gedächtnis trainieren, turnen, Spiel und Spass besuchen, singen und vorlesen. Es hat eine Coiffeuse im Haus, eine kosmetische Fusspflege, eine Textiländerung und Reparaturarbeiten. Dafür bezahlst du extra. Nur die Seelsorge ist gratis und die Hörmittelberatung.
Du wirst als eine Neun eingestuft, das heisst, du kostest uns 187 Franken pro Tag. Das ist ohne Grundgebühr für Telefon, ohne Radio- und Fernsehgebühren, ohne Versicherungen, ohne Begleitung zum Arzt, ohne Brownies, Blackies, Whities, Nutties, ohne Coiffeur, ohne Schlussreinigung bei Austritt/Todesfall. (Bei Austritt/Todesfall innert sieben Tagen nach Eintritt kostet die Schlussreinigung nur 50 Prozent, aber das haben wir schon verpasst.) Und ich sage Meer: »Aber auf die Brownies kommt es wirklich nicht mehr an, sechzig Rappen pro Stück, ihre kleine Freude, wirklich, sie
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